* 37 *

»Er lügt«, rief Nicko und stapfte wütend im Zimmer auf und ab, während der Lehrling triefend am Kamin stand. Die grünen Wollkleider des Lehrlings verströmten einen unangenehmen Modergeruch, den Tante Zelda kannte. Es war der Geruch nach misslungenen Zaubern und schaler schwarzer Magie. Sie öffnete ein paar Gläser Gestankschutz, und bald duftete es im Zimmer angenehm nach Zitronenbaisertorte.
»Das sagt er nur, um uns zu ärgern«, rief Nicko empört. »Dieser Blödian heißt niemals Septimus Heap.«
Jenna legte den Arm um Nicko.
Junge 412 hätte gern verstanden, worum es hier ging. »Wer ist denn Septimus Heap?«, fragte er.
»Unser Bruder«, antwortete Nicko.
Junge 412 sah jetzt noch verwirrter aus.
»Er ist schon als Baby gestorben«, erklärte Jenna. »Wenn er am Leben geblieben wäre, hätte er heute erstaunliche Zauberkräfte. Unser Dad war auch ein siebter Sohn, aber deshalb ist man nicht automatisch ein besserer Zauberer, verstehst du?«
»Wofür Silas der lebende Beweis ist«, murmelte Tante Zelda.
»Dad und Mum bekamen sieben Söhne«, fuhr Jenna fort. »Zuerst hatten sie Simon, Sam, Fred und Erik, Jo-Jo und Nicko. Und dann kam Septimus. Er war der siebte Sohn eines siebten Sohns. Aber er ist kurz nach der Geburt gestorben.« Sie musste daran denken, was ihr Sarah eines Sommerabends, als sie in ihrem Schrankbett lag, erzählt hatte. »Ich dachte immer, er sei mein Zwillingsbruder. Aber dann stellte sich heraus, dass er es doch nicht war ...«
»Oh«, machte Junge 412. Anscheinend war es ziemlich kompliziert, wenn man eine Familie hatte.
»Deshalb kann er unmöglich unser Bruder sein«, sagte Nicko. »Und wenn er es wäre, würde ich nichts von ihm wissen wollen. Er ist nicht mein Bruder.«
»Nun gut«, sagte Tante Zelda. »Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden. Wir können feststellen, ob er die Wahrheit sagt, was ich sehr bezweifele. Obwohl ich mich immer gefragt habe, ob Septimus ... Ich hatte immer das Gefühl, dass da etwas nicht stimmte.« Sie öffnete die Tür und sah nach dem Mond.
»Der Mond ist beinahe voll«, sagte sie. »Keine schlechte Zeit für Spiegelmagie.«
»Was?«, fragten Jenna, Nicko und Junge 412 mit einer Stimme.
»Ich werd’s euch zeigen. Kommt mit.«
Dass sie am Ententeich landen würden, hätte keiner erwartet, und doch standen sie jetzt alle dort und betrachteten, Tante Zeldas Anweisung folgend, das Spiegelbild des Mondes im stillen schwarzen Wasser.
Nicko und Junge 412 hatten den Lehrling vorsorglich in die Mitte genommen, falls er noch mal ausbüchsen wollte. Junge 412 freute sich, dass Nicko ihm endlich vertraute. Vor kurzem war er selbst noch von Nicko am Ausbüchsen gehindert worden. Und jetzt stand er hier und beobachtete genau die Art von Zauberei, vor der man ihn bei der Jungarmee gewarnt hatte: Eine Weiße Hexe mit funkelnden blauen Augen fuchtelte bei Vollmond mit den Armen in der Luft herum und sprach von toten Kindern. Er konnte es kaum glauben. Und zwar nicht, dass es geschah, sondern dass es ihm inzwischen ganz normal vorkam. Und nicht nur das. Ihm wurde auch klar, dass die Menschen, mit denen er am Ententeich stand – Jenna, Nicko und Tante Zelda –, ihm mehr bedeuteten, als ihm irgendjemand sonst in seinem ganzen Leben bedeutet hatte. Abgesehen von Junge 409, natürlich.
Nur auf den Lehrling könnte ich gut verzichten, dachte Junge 412. Der Lehrling erinnerte ihn an die vielen Leute, die ihn in seinem früheren Leben gequält hatten. In seinem früheren Leben. Genau das sollte es sein, beschloss er. Ganz gleich was geschah, er würde nie in die Jungarmee zurückkehren. Niemals.
Tante Zelda sprach mit leiser Stimme. »Jetzt werde ich den Mond bitten, uns Septimus Heap zu zeigen.«
Junge 412 bekam eine Gänsehaut und starrte in das glatte dunkle Wasser des Teichs. In der Mitte prangte ein vollkommenes Spiegelbild des Mondes, das so klar war, dass er die Meere und Gebirge des Mondes deutlicher sah als je zuvor.
Tante Zelda hob den Blick zum Himmel und sprach: »Bruder Mond, Bruder Mond, zeige uns, wenn du magst, den siebten Sohn von Silas und Sarah. Zeige uns, wo er jetzt ist. Zeige uns Septimus Heap.«
Alle hielten den Atem an und beobachteten gespannt die Oberfläche des Teichs. Septimus war tot. Was würden sie sehen? Einen kleinen Knochenhaufen? Ein kleines Grab?
Es wurde still. Das Spiegelbild des Mondes wurde größer und größer, bis ein riesiger und fast vollkommener weißer Kreis den Ententeich ausfüllte. Zuerst zeigten sich dunkle Schatten in dem Kreis. Langsam wurden sie deutlicher, und dann sahen sie ... ihre eigenen Spiegelbilder.
»Seht ihr«, sagte der Lehrling. »Ihr habt mich sehen wollen, und da bin ich. Ich hab’s euch gesagt.«
»Das hat gar nichts zu bedeuten«, brauste Nicko auf. »Das sind nur unsere Spiegelbilder.«
»Vielleicht«, sagte Tante Zelda nachdenklich. »Vielleicht auch nicht.«
»Können wir sehen, was mit Septimus nach seiner Geburt geschehen ist?«, fragte Jenna. »Dann würden wir vielleicht erfahren, ob er noch am Leben ist, oder?«
»Ja, das würden wir. Ich werde darum bitten. Aber es ist viel schwieriger, in die Vergangenheit zu blicken.« Tante Zelda holte tief Luft und sagte: »Bruder Mond, Bruder Mond, zeige uns, wenn du magst, den ersten Tag im Leben des Septimus Heap.«
Der Lehrling schniefte und hustete.
»Ruhe bitte«, zischte Tante Zelda.
Langsam verschwanden ihre Spiegelbilder von der Wasseroberfläche, und an ihre Stelle trat ein Bild, das gestochen scharf aus dem mitternächtlichen Dunkel hervorleuchtete.
Es zeigte einen Ort, den Jenna und Nicko gut kannten: ihr Zuhause in der Burg. Wie ein Gemälde lag es vor ihnen. Die Menschen im Zimmer waren unbeweglich, erstarrt in der Zeit. Sarah lag in einem behelfsmäßigen Bett, im Arm ein Neugeborenes, neben sich Silas. Jenna stockte der Atem. Auf einmal wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihr Zuhause vermisste. Sie blickte zu Nicko. Sein Gesicht hatte diesen konzentrierten Ausdruck, den sie von ihm kannte, wenn er sich nicht aufregte.
Plötzlich zogen alle hörbar die Luft ein. Die Gestalten begannen sich zu bewegen. Lautlos und mit flüssigen Bewegungen wie in einem Film spielten sie eine Szene vor, und die Zuschauer waren hingerissen – bis auf einen.
»Die Camera obscura meines Meisters ist hundertmal besser als dieser alte Ententeich«, sagte der Lehrling verächtlich.
»Halt die Klappe«, zischte Nicko zornig.
Der Lehrling seufzte und zappelte herum. Ist doch alles Quatsch, dachte er. Hat mit mir überhaupt nichts zu tun.
Der Lehrling irrte. Die Ereignisse, die er beobachtete, hatten sein Leben verändert.
Das Zimmer der Heaps sieht etwas anders aus. Alles ist neuer und sauberer. Und Sarah Heap ist vieljünger. Ihr Gesicht ist voller, und in ihren Augen wohnt keine Traurigkeit. Ja, sie sieht rundum glücklich aus und hält ihren neugeborenen Jungen Septimus im Arm. Auch Silas ist jünger. Sein Haar ist nicht so zottelig, und sein Gesicht hat weniger Sorgenfalten. Außerdem sind sechs kleine Jungs da, die ruhig miteinander spielen.
Jenna lächelte wehmütig. Der kleinste mit dem widerspenstigen Wuschelhaar musste Nicko sein. Er sah so süß aus, wie er aufgeregt hin und her hüpfte und das Baby sehen wollte.
Silas hebt Nicko hoch, damit er seinen neuen Bruder sehen kann. Nicko streckt seine kleine Patschhand aus und streichelt dem Baby sanft die Wange. Silas sagt etwas zu ihm und setzt ihn ab, und er läuft zu seinen älteren Brüdern zurück, um weiterzuspielen.
Jetzt verabschiedet sich Silas von Sarah und dem Baby mit einem Kuss. Er hält inne und sagt etwas zu Simon, dem Ältesten, und dann ist er fort.
Das Bild verblasst, Stunden verstreichen.
Jetzt erhellt Kerzenlicht das Zimmer der Heaps. Sarah stillt das Kind, und Simon liest seinen jüngeren Brüdern eine Geschichte vor. Eine dickleibige Gestalt in dunkelblauer Tracht wuselt geschäftig hin und her. Die Oberhebamme. Sie nimmt Sarah das Baby ab und legt es in die Holzkiste, die als Kinderbett dient. Mit dem Rücken zu Sarah Zieht sie ein Fläschchen mit einer schwarzen Flüssigkeit aus ihrer Tasche und taucht ihren Finger hinein. Dann schaut sie sich um, als ob sie sich beobachtet fühlt, und streicht mit ihrem schwarzen Finger über die Lippen des Babys. Sofort erschlafft Septimus.
Die Oberhebamme wendet sich Sarah zu und hält ihr das schlaffe Baby hin. Sarah ist verzweifelt. Sie legt ihren Mund über den des Babys und versucht, ihm Leben einzuhauchen, doch Septimus bleibt so schlaff wie ein Lappen. Bald wirkt das Gift auch bei Sarah. Benommen sinkt sie in ihr Kissen zurück.
Unter den entsetzten Augen der sechs kleinen Jungs lieht die Oberhebamme eine riesige Verbandsrolle aus ihrer Tasche und wickelt Septimus ein. Sie beginnt an den Füßen und arbeitet sich mit geübter Hand nach oben. Am Kopf angekommen, hält sie einen Augenblick inne und vergewissert sich, ob das Kind noch atmet. Zufrieden fährt sie mit dem Einwickeln fort, lässt aber die Nase herausschauen. Am Ende sieht Septimus wie eine kleine ägyptische Mumie aus.
Plötzlich wendet sich die Oberhebamme mit Septimus zur Tür. Sarah erwacht in dem Augenblick aus ihrer Betäubung, als die Hebamme die Tür aufreißt und mit Silas zusammenprallt, der sich seinen Umhang fest um den Leib gewickelt hat. Die Hebamme stößt ihn beiseite und eilt den Korridor hinunter.
Die Korridore in den Anwanden werden von hell brennenden Fackeln erleuchtet, die tankende Schatten auf die dunkle Gestalt der Oberhebamme werfen. Im Laufen drückt sie Septimus an sich. Nach einiger Zeit tritt sie in die Nacht hinaus. Es schneit. Sie drosselt ihre Schritte und sieht sich ängstlich um. Dann eilt sie, über das Baby gebeugt, durch die menschenleeren Gassen, bis sie auf einen großen freien Platz gelangt.
Junge 412 stockte der Atem. Es war der gefürchtete Exerzierplatz der Jungarmee.
Die rundliche Gestalt huscht über den verschneiten Exerzierplatz wie ein schwarzer Käfer über ein weißes Tischtuch. Der Wachmann am Kasernentor salutiert und lässt sie durch.
Einmal im Innern der trostlosen Kaserne, geht die Hebamme langsamer. Sie steigt vorsichtig eine steile schmale Treppe hinunter und betritt einen Kellerraum, in dem mehrere Reihen leerer Kinderbettchen stehen. Hier wird die Kinderkrippe der Jungarmee entstehen, in der alle verwaisten oder unerwünschten männlichen Kinder aus der Burg großgezogen werden. (Die Mädchen kommen in die Hauswirtschaftsschule.) Vier Bettchen sind bereits belegt. In dreien liegen die bedauernswerten Drillinge eines Gardisten, der es gewagt hatte, einen Scherz über den Bart des Obersten Wächters zu machen. Im vierten ist der Sohn der Hebamme untergebracht. Er ist sechs Monate alt und wird hier gehütet, wenn sie zu arbeiten hat. Die Kinderfrau, ein altes Mütterchen mit chronischem Husten, ist auf ihrem Stuhl zusammengesackt und schläft unruhig zwischen Hustenanfällen. Die Oberhebamme legt Septimus rasch in ein leeres Bettchen und wickelt seine Bandagen ab. Septimus gähnt und öffnet seine kleinen Fäuste.
Er lebt.
Jenna, Nicko, Junge 412 und Tante Zelda starrten auf die Szene vor ihnen im Teich. Was der Lehrling gesagt hatte, schien leider zu stimmen. Junge 412 hatte ein flaues Gefühl im Magen. Der Anblick der Kaserne war ihm zuwider.
Im halbdunklen Kinderzimmer der Jungarmee setzt sich die Oberhebamme müde hin. Immer wieder blickt sie nervös zur Tür, als erwarte sie jemanden. Es kommt niemand.
Nach ein oder zwei Minuten stemmt sie sich aus dem Stuhl, geht hinüber zu dem Bettchen, in dem ihr eigener Sohn schreit, und hebt ihn heraus. Im selben Augenblick fliegt die Tür auf, und die Oberhebamme fährt erschrocken herum, ganz weiß im Gesicht.
Eine große, schwarz gekleidete Frau steht in der Tür. Über ihrem schwarzen, tadellos gebügelten Kleid trägt sie den gestärkten weißen Kittel einer Krankenschwester, doch auf ihrem blutroten Gürtel prangen die drei schwarzen Sterne DomDaniels.
Sie kommt, um Septimus Heap zu holen.
Dem Lehrling gefiel überhaupt nicht, was er sah. Er wollte die fragwürdige Familie nicht sehen, aus der man ihn gerettet hatte – sie bedeutete ihm nichts. Ebenso wenig wollte er sehen, was ihm als Kind widerfahren war. Was ging ihn das heute noch an? Außerdem hatte er es satt, mit dem Feind hier draußen in der Kälte zu stehen.
Wütend gab er der neben ihm sitzenden Ente einen Fußtritt. Mit einem lauten Klatschen landete Berta im Teich, und das Bild zerfiel in tausend tanzende kleine Lichter.
Der Zauber war gebrochen.
Der Lehrling flüchtete. So schnell er konnte rannte er den Weg entlang in Richtung Mott, wo das schmale schwarze Kanu lag. Er kam nicht weit. Berta, die ihm den Tritt verübelte, nahm die Verfolgung auf. Der Lehrling hörte das Flattern der kräftigen Flügel erst im letzten Moment, bevor ihm die Ente mit dem Schnabel ins Genick hackte und so an seinem Kragen zerrte, dass es ihm die Luft abschnürte. Dann bekam sie seine Kapuze zu fassen und zog ihn in Richtung Nicko.
»Du meine Güte!«, rief Tante Zelda besorgt.
»Um den würde ich mir keine Sorgen machen«, sagte Nicko zornig, als er den Lehrling einholte und festhielt.
»Tu ich auch nicht«, erwiderte Tante Zelda. »Ich hatte nur Angst, dass Berta ihren Schnabel überanstrengt.«